Frühkindliche Reflexe und deren Auswirkungen auf späteres Lernen und Verhalten bei Kindern

Bewegung ist das wichtigste „Vokabular“ des Kindes im ersten Lebensjahr. Denn seine „Sprache“ entwickelt sich über seinen Körper.

Ein Kind lernt mit seinem Körper – dieser ist sein Medium und bildet die Basis jegliches Lernens (https://www.praxis8111.at/spezialgebiete/baby-und-kleinkind/#motorischeEntwicklung). Lernen beginnt bereits zum Zeitpunkt der Empfängnis und weiterführend im Mutterleib. Auch Ungeborene trainieren ihre Reflexe im Mutterleib – deshalb ist es bereits von großer Bedeutung, wie die Schwangerschaft einer Frau verläuft, ob Toxine im Spiel sind wie beispielsweise Alkohol oder Nikotin. Aber auch Stress ist ein negativer Faktor, der das Ungeborene in seiner Entwicklung hemmen kann. Nach den neun Monaten entscheidet auch noch maßgeblich die Art und Weise der Geburt (Schmerzmittel, Kaiserschnitt, PDA, verlängerte Wehen, Sturzgeburt etc.) wie gut oder eben weniger gut das Neugeborene ins Leben startet.

Reflexe und deren Auswirkung auf Erziehung und Lernen

Um zu überleben, ist ein Neugeborenes mit einer Vielzahl sogenannter „frühkindlicher Reflexe“ ausgestattet. Diese Reflexe sind automatische Bewegungen, welche vom Gehirnstamm ausgehen und das Überleben sichern sollen. Bereits im Mutterleib, bei der Geburt und auch in den ersten Lebensmonaten werden diese Muster angewandt, mit sechs bis spätestens 12 Monaten sollten die Reflexe jedoch gehemmt werden, um eine höhere Entwicklung des Gehirns zu ermöglichen.

Moro-Reflex (Klammerreflex- eine Rückneigung des Säuglings führ zur Streckung der Arme und Öffnen des Mundes), Hand- und Fußgreifreflex (sobald man einen Finger in die Hand eines Babys legt umklammert dieses den Finger), ATNR (Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex) etc. werden bei den Mutter-Kind-Pass Untersuchungen vom Kinderarzt/der Kinderärztin ausgetestet, um ihren Verlauf und die Entwicklung festzustellen. Ist der Abbau dieser Reflexe nicht zeitgerecht gegeben, so weist dies auf eine Unterentwicklung innerhalb des zentralen Nervensystems hin. Sind solche Verhaltensmuster über sechs Monate hinaus noch aktiv, bleiben unreife Verhaltensmuster zurück. Eltern beschreiben ihre Kinder oftmals so: „Da ist immer noch ein Kleinkind im Körper meines achtjährigen Kindes aktiv“. Vor allem der „ATNR“ ist auf schulische Schwierigkeiten später bezogen wichtig. Kopfbewegungen des Babys zu einer Seite führen zu einem gleichzeitigen Ausstrecken eines Armes und eines Beines zu der Seite, in die es den Kopf dreht (Fechterstellung). Der ATNR hat im Mutterleib die Aufgabe, Arme und Beine zu trainieren und hilft dem Baby auch während der Geburt. Er gibt dem Kind eine erste Richtungsinformation von RECHTS und LINKS. In den ersten Lebensmonaten trainiert er die Augen im Zusammenspiel mit den Händen, soll spätere Greifbewegungen nach Gegenständen anbahnen und hilft dem Baby frei zu atmen, wenn es auf dem Bauch liegt. Beibt der Reflex jedoch bestehen, hindert es das Kind dabei sich zu Umzudrehen und Krabbeln zu lernen.

INPP (Institut für neurophysiologische Psychologie)

Die Engländerin Sally Goddard Blythe hat mit ihrem Ehemann Peter Blythe das „INPP-Konzept“ begründet (Institut für neurophysiologische Psychologie). Mit diesem Konzept beschäftigen sich PädagogInnen, ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen und OsteopathInnen. (http://www.inpp.ch/)

Es bietet eine sehr gute Möglichkeit, das Zusammenwirken von körperlichen Reflexen und Bewegungsmustern auf Lernen und Verhalten bei Kindern (und in weiterer Folge auch bei Erwachsenen) zu übertragen.

Mittlerweile ist die Wirkung dieser Behandlungsmethode wissenschaftlich belegt und wird von vielen ExpertInnen in der Praxis täglich angewandt. Kurz zusammengefasst geht es darum, dass ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Sinnessystemen des Menschen (Fühlen, Sehen, Riechen, Schmecken etc.) vorhanden sein sollte. Der Mensch reagiert auf diese sensorische Informationen aus seiner Umwelt und passt dementsprechend seine Reaktionen an. Bei diagnostischen Überprüfungen von Kindern mit Lern-, Sprech-, Verhaltens- und oder motorischen Schwierigkeiten genügt es nicht, einfach nur ein Hörproblem, Leseschwierigkeiten oder Koordinationsprobleme etc. zu diagnostizieren. Wenn ein Kind nicht entsprechend hört, sieht, spricht, sich entsprechend bewegt fehlt oftmals nicht nur am ausführenden Organ etwas, sondern oftmals auch an der „Basis“. Häufig fehlen die Grundlagen und das Zusammenspiel der Sinnessysteme funktioniert unzureichend.

Sally Goddard Blythe hat dafür Reflexaustestungen entwickelt, welche weltweit von ausgebildeten ExpertInnen durchgeführt werden und sehr aufschlussreich sind. Diese Analyse bezieht auch Fragen zur Empfängnis, zur Schwangerschaft und zur Geburt mit ein, da sich, wie bereits erwähnt, auch hier bedeutsame Charakteristika in der Entwicklung eines Kindes  ausprägen. Dieser Ansatz lässt sich sehr gut mit der Physiotherapie und Osteopathie bei Kindern kombinieren und führt zu sehr guten Erfolgen bei deren Behandlung (https://www.praxis8111.at/spezialgebiete/baby-und-kleinkind/).

Warum „rollen“ und „purzeln“ Kinder?

Im Rahmen der Sinnesentwicklung entwickelt das Kind zuerst den Gleichgewichtssinn. Dies ist das erste System, welches vollständig entwickelt ist. Bereits in der 16. Schwangerschaftswoche ist das System ausgereift und wird mit der natürlichen Geburt (im Geburtskanal) intensiv „trainiert“, da hier das Kind das volle Ausmaß der Schwerkraft zu spüren bekommt. Die Schwerkraft ist der Mittelpunkt aller Lebewesen, aus ihr heraus werden menschliche Handlungen überhaupt erst möglich. Dadurch wirken sich auch Probleme mit diesem wichtigen Sinn auf sämtliche andere Funktionen aus. Das, in der Fachsprache als „vestibuläres System“ bezeichnete, Gleichgewicht steht in ganz enger Beziehung zu den oben erwähnten Reflexen. Das Gleichgewicht ist somit unverzichtbar für Haltung und Bewegung, für das Gefühl von „Mitte“ im Raum, Zeit, Tiefe, Bewegung und das Wahrnehmen des eigenen „Ichs“. Alle weiteren Sinne, die sich im Rahmen des Lernens beim Kind entwickeln, sind mit dem Gleichgewichtssinn verbunden. Krabbeln auf Knien und Händen erfüllt in weiterer Folge eine wichtige Funktion. Es ermöglicht dem Kind erstmal in seinem Leben, seinen Gleichgewichtssinn mit dem visuellen (Sehsinn) und dem propriozeptiven Sinn (Wahrnehmung aus dem Körperinneren) zu verknüpfen.

Für ein neugeborenes Baby sind Wahrnehmung und Bewegung ein und dasselbe. Somit ist Bewegung die erste „Sprache“ des Kindes. Je besser es in dieser ersten „Sprache“ ist, desto leichter wird es sich mit anderen Erfahrungen tun.

Bereits im Mutterleib spürt es Bewegungen, gedämpft durch den Polster der Gebärmutter (deshalb sind die Umstände und der Verlauf einer Schwangerschaft so entscheidend – das Kind erlebt „jede Bewegung mit“). Nach der Geburt spürt es diese Empfindungen durch Liegen, Strampeln, Rollen, Sitzen, Krabbeln, Gehen etc. So wird durch Bewegung eine Verbindung zwischen dem Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat) und höheren Zentren im Gehirn geschaffen.

Die Welt des Kindes ist „bewegt“

Für das Kind bewegt sich die Welt bei jeder Bewegung mit. Deshalb legen Sie Ihr Kind auf Decken, wo es sich frei entfalten und bewegen kann. Newborn-Schale, Wippe, Maxi-Cosi und Co. verhindern Aktivität und Bewegung Ihres Kindes und hemmen es in seiner Entwicklung. Je mehr ein Kind in Hilfsmitteln „aufbewahrt“ wird, desto mehr reduziert sich sein Drang und seine Neugier auf Bewegung, welche so wichtig ist.

Zusammenfassend kann man festhalten: Nur dann, wenn Bewegung und Empfindung eine Einheit bilden, können sich fortgeschrittene Fertigkeiten bei unseren Kindern ausbilden. Fertigkeiten wie Sprechen, Schreiben und Lesen hängen von der Motorik und Wahrnehmung ab. Somit sind  Kinder, welche „herumspringen, wirbeln und Purzelbäume schlagen“, die Einsteins und Newtons von morgen.